Bevor ich mit meinem Debütroman begann, war mir nicht bewusst, dass längere Texte oft mit einer ganz individuellen Entstehungsgeschichte einhergehen und von dieser maßgeblich geprägt werden. Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, ob zwei Bücher desselben Autors vielleicht deshalb so signifikante Unterschiede aufwiesen, weil sie auch die Lebensumstände, die Verfassung und die bisherige Entwicklung des Schriftstellers abbilden. Natürlich kann ich nicht behaupten, dass das bei jedem Autor und jedem Werk der Fall ist. Trotzdem fasziniert mich der Gedanke, und ich versuche, mir diese Sachen bewusst zu machen, um nicht gegen sie, sondern mit ihnen an dem Buch zu arbeiten.
Unter diesem Gesichtspunkt halte ich die Entstehungsgeschichte eines Romans nicht bloß für interessant, sondern für einen aufschlussreichen Bestandteil des Textes. Für meinen Debütroman “Der Fall Zossner” möchte ich sie deshalb einmal hier offenlegen.
Wenn man einmal von dem ganz grundsätzlichen Wunsch absieht, ein Buch zu schreiben, dann bahnte sich die Entstehung meines 2022 erschienenen Erstlingswerks bereits im November 2017 an. Damals machte ich mich selbstständig, um für Games Workshop Romane zu übersetzen.
* In drei Jahren übersetzte ich (neben diversen kleineren Projekten) über ein Dutzend Romane, und lernte dabei nicht nur das Handwerk des Schreibens, sondern entwickelte auch ein Verständnis für Absichten und Vorgehen von Autoren. Ich bin überzeugt, dass dieses tiefe Verständnis absolut notwendig ist, um eine Geschichte akkurat in einer anderen Sprache wiederzugeben. Am meisten lernte ich dabei mit der Fragestellung, warum sich der Verfasser für ein bestimmtes Wort oder eine bestimmte Satzstellung entschieden hat. Es gibt immer unzählige Arten und Weisen, etwas auszudrücken - warum hat der Autor genau diese gewählt? Das war als Übersetzer keine einfache Interessensfrage des “Was hat der Autor sich dabei gedacht?” mehr, wie man sie aus der Schule kennt, sondern entscheidend für die Qualität der Übersetzung. Ich glaube, dabei einiges über die verschiedenen Autoren gelernt zu haben. Manche wurden mir dadurch sympathischer, andere fesselten mich vor allem wegen des Verstands, den sie mit ihrem Text bewiesen, und wieder andere begeisterten mich mit der Tiefe existenzieller Fragen, die sie zwischen den Zeilen ihrer Romane bearbeiteten. Manche Romane strotzten vor Persönlichkeit, während andere sich strikt nach erlernten Regeln zu richten schienen, die zwar gut funktionierten, aber den Blick auf den Charakter des Autors verwehrten.
Diese Zeit der intensiven Textanalyse hat mein Verständnis von Büchern nachhaltig geprägt und verändert. Denn wenn die Handlung auf einmal in den Hintergrund tritt, um den Autor dahinter erkennen zu lassen, dann kann man sich auf einzigartige Weise mit Menschen verbunden fühlen, die man nie gekannt hat, und die teilweise schon vor Jahrhunderten gestorben sind. Und das ist nichts Geringeres als Magie.
Mit jedem weiteren Roman, den ich übersetzte, wuchs in mir der Wunsch, mein viele Jahre zuvor gefasstes Vorhaben eines eigenen Buchs endlich zu verwirklichen. Denn de facto schrieb ich die ganze Zeit Bücher - es waren nur nicht meine eigenen.
Obwohl ich das große Glück einer Frau habe, die mich zu solchen Dingen ermutigt und mich unterstützt, gab es dennoch einiges an Trägheit und Bedenken zu überwinden, ehe es wirklich losging. Als ganz konkreter Anstoß zur Überwindung sei hier meine Hochzeit 2019 genannt. Meine Frau und ich haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass wir Kinder wollen.
Da das gedanklich traditionell oft mit Hochzeiten in Verbindung gebracht wird, bekam ich um die Hochzeit herum des Öfteren zu hören, dass mit dem Eintritt von Kindern ins eigene Leben alle eigenen Pläne und Ambitionen zum Erliegen kommen.
Ich stand gedanklich also recht akut vor der großen Entscheidung, ob ich versuchen soll, ein Buch zu schreiben, bevor ich Vater werde. Vor größeren Entscheidungen frage ich mich oft, ob ich es in Zukunft bereuen könnte, etwas getan oder nicht getan zu haben, und so auch dieses Mal: Ich war mir sicher, es eines Tages zu bereuen, es nicht einmal versucht zu haben, ein Buch zu schreiben, ehe ich all meine Zeit meiner Vaterrolle opfere.
Inzwischen habe ich zwei Kinder, und es sei an dieser Stelle einmal deutlich gesagt, dass ich unendlich gerne Vater bin. Bei aller Freude am Schreiben gibt es für mich keinen Moment des Zweifels, dass die Zeit mit und Erziehung von meinen Kindern die unbestreitbar wichtigere Aufgabe in meinem Leben ist. Auch habe ich inzwischen Mittel und Wege gefunden, meine schriftstellerischen Ambitionen mit meiner Vaterrolle in Einklang zu bringen.
Damals aber hegte ich noch die Befürchtung, erst mit dem Renteneintritt mit meinem Debütroman beginnen zu können, sollte das erste Kind früher als erwartet kommen. Doch nicht einmal das überzeugte mich vollständig, ein Buchprojekt ernsthaft anzugehen. Zu groß erschien mir die Aufgabe.
Immerhin nahm ich mir aber zwei Wochen Zeit, um einen ersten Test durchzuführen: In der ersten Woche machte ich mir einen Plan, in dem ich alles festhielt, was so im Laufe der Jahre in mir gearbeitet hatte, und entwickelte diesen weiter, bis er ein Buch füllen könnte. In der zweiten Woche schrieb ich das erste Kapitel (das - nach vier oder fünf Überarbeitungen - immer noch das erste Kapitel von “Der Fall Zossner” ist). Denn, so mein Gedanke, wenn ich nicht einmal ein einziges Kapitel schreiben kann, brauche ich mir auch kein ganzes Buch vornehmen.
Beides ging gut auf und bereitete mir viel Freude. Doch während zwei Wochen Urlaub noch leicht umsetzbar waren, so errechnete ich (anhand meiner Übersetzererfahrung), dass ich für mein Erstlingswerk acht Monate benötigen würde - was nicht zuletzt eine finanzielle Belastung sein würde, da ich in der Zeit, in der ich schrieb, keine gewinnbringenden Aufträge erledigen konnte.
Ich wollte die Dinge weder überstürzen, noch in Vergessenheit geraten lassen, also legte ich den 1. März 2020 als Starttermin für mein Romanprojekt fest. Bis dahin übersetzte ich noch zwei oder drei weitere Romane, und so begann die Arbeit an meinem Debütroman ziemlich genau in dem Moment, in dem Corona die ganze Welt lahmlegte. Eine merkwürdige, bedrückende Atmosphäre, in der dieses Buch also entstand, und eine, in der Meinungskriege in einem bis dahin für mich ungekannten Ausmaß in den sozialen Netzwerken tobten.
Ich bin mir recht sicher, dass das Einfluss auf den Schreibprozess hatte. Vor allem nährte es in mir den Wunsch, ein Buch zu verfassen, über das sich herrlich streiten ließ, und zwar nicht über ein politisches, religiöses oder gesellschaftliches Thema, sondern ein familiäres. Denn die Lagerbildung war inzwischen so weit fortgeschritten, dass ich fürchtete, manche Leser könnten nur nach einigen Merkmalen ihres oder des gegnerischen Lagers Ausschau halten, um sich dann ohne große Überlegung bei der einen oder anderen Meinung einzuordnen. Bei einem familiären Thema hatte ich die Hoffnung, dass ich die Individualität des Lesers besser hervorlocken könnte, und er angeregt wird, sich selbst eine Meinung zu bilden - und zu hinterfragen, wie seine Meinung eigentlich entsteht und worauf sie beruht.
Daher lautete der ursprüngliche Titel von “Der Fall Zossner” auch “Kennen wir uns?”. Leider gibt es bereits mehrere Bücher mit diesem Titel, sodass mein Debüt den bekannten Titel erhielt.
Ich nahm mir außerdem konkrete Ziele vor, die ich mit “Der Fall Zossner” erreichen wollte. Denn das Spektrum “Buch” ist unendlich, und ich fürchtete, so lange würde es auch dauern, eines zu schreiben, wenn ich Ziele nicht konkretisierte. Da sie mich acht Monate meines Lebens so eng begleitet haben, werde ich sie wohl nie vergessen:
Ich machte mich also an die Arbeit, Tag für Tag, und schrieb, überarbeitete, korrigierte. Mein Plan ging auf - abgesehen von den letzten drei Kapiteln. Denn was ursprünglich als klassisches Happy End angedacht war, entpuppte sich als Ding der Unmöglichkeit, welches das ganze Konzept hinter dem Buch untergraben hätte. Nach zwei Wochen der Krise wusste ich, wie das Buch enden musste: Mit genau dem Absatz, der auch in der Endfassung das Ende des Romans bildet. Im Erstentwurf improvisierte ich den Weg dahin vom elften Kapitel an, ohne einen Plan zu haben, aufgrund der inzwischen fest etablierten Figuren und Beziehungsdynamiken.
Auf den Abschluss des Erstentwurfs folgten drei Überarbeitungsrunden: eine inhaltliche Überarbeitung, in der ich zwei Kapitel und einige Szenen komplett neu schrieb, strich oder ergänzte, eine stilistische Überarbeitung, in der ich mit großer Sorgfalt jeden Satz so konstruierte und jedes Wort so wählte, dass es den gewünschten Effekt erzielte, und ein Korrektorat, mit dem ich Rechtschreib-, Grammatik- und Zeichensetzungsfehler ausräumen wollte.
Mit Abschluss dieses letzten Schritts war “Der Fall Zossner” Ende November 2020 fertiggestellt, und ziemlich genau einen Monat später wurde ich zum ersten Mal Vater - mein Plan war also aufgegangen, und ich war überglücklich.
Es gäbe noch einiges mehr über “Der Fall Zossner” zu sagen, aber da ich hier erstmal “nur” die Entstehungsgeschichte erzählen wollte, belasse ich es dabei.
Was für ein Traum damit für mich wahr wurde und warum, was diese Zeit und diese Bücher mir gegeben haben, all das sei ein anderes Mal an anderer Stelle erzählt.